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Homöopathie in Indien – Interview mit Prof. Dr. Martin Dinges

Prof. Dr. Martin Dinges während einer Gesprächssituation in Indien.Prof. Dr. Martin Dinges in Indien. © IGM, Stuttgart

Indien gilt als eine Art Paradies für Homöopathen. Wie ist es dazu gekommen? Und was genau hat es mit der Homöopathie in Indien auf sich? Prof. Dr. Martin Dinges gibt im Interview Antworten auf diese Fragen.

Dinges ist seit 1991 Archivar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart und seit 1997 zudem stellvertretender Leiter des Instituts. Als Experte für die Geschichte der Homöopathie organisierte er eine Wanderausstellung zum selbigen Thema. Diese führte ihn seit 2007 immer wieder nach Indien. Dinges besuchte 15 große Städte und sammelte viele Eindrücke rund um die Homöopathie auf dem Subkontinent. Seitdem hat er mehrere Aufsätze zum Thema verfasst sowie 2014 ein Buch herausgegeben: „Medical Pluralism and Homoeopathy in India and Germany (1810-2010)“.

1. Es heißt, Homöopathie in Indien sei gesundheitspolitisch anerkannt. Was ist damit gemeint?

Prof. Dr. Martin Dinges: Die Anerkennung wird deutlich, wenn man sich die staatlichen Institutionen ansieht. So sind die Ärzteregister für Schul- und Alternativmedizin gleichwertig. Die Alternativmedizin, zu der die Homöopathie gezählt wird, hat einen offiziellen Namen, AYUSH. AYUSH steht für: Ayurveda, Yoga, Unani, Sidda, Homeopathy. Unter dem Dach AYUSH finden sich fünf eigenständige Ärzteregister.

2. Betrifft diese institutionelle Anerkennung auch die Ausbildung der Homöopathen? Und wie sieht diese aus?

Prof. Dr. Martin Dinges: Ja, die Ausbildung der Homöopathen wird staatlich geregelt. Homöopathie wird, ebenso wie die Schulmedizin, an offiziellen Ausbildungseinrichtungen, Medical Schools, unterrichtet. Es gibt fast 200 homöopathische Medical Schools, jede mit einem eigenen Lehrkrankenhaus. Die Ausbildung dauert genauso lange wie die der Schulmediziner: vier Jahre Studium plus ein praktisches Jahr.

3. Und wie sieht die Anerkennung im medizinischen Alltag in Indien aus?

Prof. Dr. Martin Dinges: In den sogenannten medical dispensaries, den Ambulanzen, findet in Indien die medizinische Grundversorgung statt. Es gibt 26.102 dieser Ambulanzen (Stand: Januar 2014), die von AYUSH-Ärzten mitbetreut werden. In jeder arbeitet mindestens ein Arzt. Ich habe selbst erlebt, wie in einer Ambulanz zwei Homöopathen, ein Schulmediziner und ein Unani-Arzt ganz unproblematisch zusammenarbeiteten. Man überweist sich Patienten gegenseitig, je nach Erkrankung und Spezialgebiet des jeweiligen Arztes.

4. Wie hoch ist der Anteil der Homöopathen an den indischen Medizinern insgesamt?

Prof. Dr. Martin Dinges: In Indien sind 940.000 Schulmediziner registriert (Stand: Januar 2014), dem stehen 680.000 AYUSH-Ärzte gegenüber. Davon sind 280.000 Homöopathen. Somit ist etwa jeder sechste Arzt in Indien Homöopath (16,7 Prozent) – während in Deutschland etwa ebenso viele Mediziner unter den Hausärzten und Internisten Homöopathie anwenden. Die absoluten Zahlen sind größer als in Deutschland, da Indien wesentlich (16 Mal) mehr Einwohner hat.

5. Warum ist die Homöopathie in Indien so beliebt?

Prof. Dr. Martin Dinges: Was mir in Indien aufgefallen ist: Viele Inder halten die Homöopathie für eine indische Heilweise. Sie wissen nicht, dass der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, ein Deutscher war. Das scheint zunächst kurios, hat jedoch seine Gründe.

Indien war lange britische Kolonie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchte Indien, speziell der Landesteil Bengalen, sich selbst neu zu erfinden, sich kulturell von den Briten loszusagen. Da wird sich auch Fremdes zu eigen gemacht, um sich abzugrenzen. Diesen Vorgang nennt man Nostrifizierung.

Die Homöopathie kam den Bengalen im 19. Jahrhundert gerade recht – sie war modern, jedoch nicht aus Großbritannien, sondern einem anderen Land, Deutschland, das damals als eines der medizinisch führenden Länder der Welt galt. Homöopathie war zudem leicht erlernbar, bot Hilfe zur Selbsthilfe, gerade für Familien. Sie war auch vergleichsweise kostengünstig. Man musste so nicht die teuren britischen Arzneien kaufen. Rabindranath Tagore, Literaturnobelpreisträger und Dichter der Nationalhymnen von Indien und Bangladesch, war Homöopath.

6. Sie sind auch Experte für Genderforschung. Häufig heiraten in Indien weibliche Homöopathen männliche Schulmediziner – warum?

Prof. Dr. Martin Dinges: In Indien werden viele Ehen arrangiert, zudem ist es üblich, dass Frauen nach der Hochzeit ihren erlernten Beruf nicht weiter ausüben. Wenn die unverheiratete Tochter mit der Schule fertig ist, wählen Eltern für sie lieber die kostengünstigere Ausbildung zur Homöopathin als die teurere zur Schulmedizinerin – denn später wird die Tochter wohl vermutlich ohnehin nicht mehr arbeiten. Eine Ehe mit einem Schulmediziner wird da gern arrangiert – diese verdienen besser als Homöopathen, zudem ist ein Schulmediziner vermutlich aus gutem Haus, da er sich das Studium leisten konnte.

7. Hat sich die fachliche Qualität der Homöopathie in Indien in den letzten Jahren verbessert?

Prof. Dr. Martin Dinges: Ja, das ist mein Eindruck. Der Central Council of Research, der unter anderem für die Forschung in der Homöopathie zuständig ist, beschließt immer strengere Auflagen. Der Leiter der Behörde achtet sehr auf Qualität. Die Forschung verbessert sich stetig, da ist jetzt Zug drin. So hat der vom Central Council herausgegebene „Indian Journal of Research in Homoeopathy: IJRH“ mittlerweile eine strenge internationale peer review eingeführt.